Politexperte Hugo Brady: «Ich halte nicht viel von Untergangspropheten»
Wohin steuert Europa? Ist das Modell EU überhaupt reformierbar? Das Migros-Magazin hat Hugo Brady, einen der ausgewiesensten Spezialisten in Sachen Europa, gefragt. Der Ire über Reformen in Zeiten der Krise und über die Schweiz als Vorbild der Grossen im Staatenbund.
Hugo Brady, auf dem ganzen Kontinent steigt die Skepsis gegenüber der EU, Grossbritannien etwa diskutiert offen über den Ausstieg, und die Schweiz ist froh, dass sie immer genügend Abstand gehalten hat. Ist das europäische Projekt noch zu retten?
Die EU steht an einem Scheideweg, allerdings tut sie das schon seit bald einem Jahrzehnt — seit damals bei Referendumsabstimmungen klar wurde, dass die EU als populäres Projekt wohl keine Zukunft hat. Aber als Projekt der Notwendigkeit vermutlich schon. Auf der Weltbühne werden nur jene Akteure respektiert, die wirtschaftlich stark sind. Und Europa kann nur gemeinsam die notwendige Stärke aufbringen, um in der Welt gehört zu werden.
Und dazu braucht es auch den Euro?
Würde die Währung auseinanderbrechen, bekäme die ganze Welt die Schockwellen zu spüren. Wir müssen alles daran setzen, dass das nicht passiert.
Wären die Konsequenzen wirklich derart dramatisch?
Es würde Jahre dauern, bis sich die Wirtschaft der Welt und Europas von einem Euro-Kollaps erholt hätte. Der Untergang Europas wäre es natürlich nicht, aber es würde die wirtschaftliche Integration des weltweit grössten Markts rückgängig machen, und es würde den Kontinent empfindlich schwächen. Die Euro-Krise ist allerdings auch eine Chance.
Inwiefern?
Sie zwingt die EU zu nützlichen und wichtigen Reformen, die in ruhigeren Zeiten nicht zu machen wären. Eine existenzielle Krise wie diese könnte durchaus Auslöser eines weiteren grossen Integrationsschritts sein.
Oder politische Kräfte stärken, die den Abbruch des Experiments fordern.
Das glaube ich nicht. Es wird ja überall das Erstarken der extremen Rechten prophezeit, aber bisher zeigen sich die Europäer bemerkenswert widerstandsfähig. Klar, Protestparteien haben Zulauf, aber das ist weit entfernt von einem Zuspruch für Rechtsextreme. Mein Eindruck ist, dass die grosse Mehrheit der Bevölkerung Europas nicht an dem interessiert ist, was die extreme Rechte verkaufen will. Das politische Zentrum in der EU ist erstaunlich stabil.
Die EU wird das alles also irgendwie überstehen und vorwärtsgehen?
Da bin ich mir ziemlich sicher. Keiner bestreitet, dass es eine Menge Probleme gibt, aber die EU ist noch immer besser als alle denkbaren Alternativen. Sie ist ein Friedens- und Freiheitsprojekt, keine Machtrepublik wie die USA. Aber sie kann damit nur erfolgreich sein, wenn sie wirtschaftlich gesund ist. Und es macht mir schon Sorgen, wie zögerlich und hilflos sich die europäischen Regierungschefs verhalten.
Wie wahrscheinlich ist es, dass Grossbritannien aus der EU austritt?
Nicht allzu sehr. Letztlich werden die EU-Skeptiker einsehen, dass die Alternativen nicht sehr attraktiv sind. Und wenn der Abstimmungskampf mal läuft, werden viele Briten auch realisieren, dass das politische Personal der Euroskeptiker nicht sehr überzeugend ist. Eins aber ist klar, Grossbritannien wird nie ein begeistertes EU-Mitglied sein. Es wird die EU immer bestenfalls als notwendiges Übel ansehen. Diese Haltung vertreten die Briten gegenüber dem Kontinent schon seit Jahrhunderten.Hinzu kommt: Es ist heutzutage in der britischen Politik leichter, offen schwul zu sein als offen EU-freundlich. Dabei haben die wirtschaftlichen Probleme Grossbritanniens nicht das Geringste zu tun mit der EU. Und wenn behauptet wird, die Union mit ihren Regulierungen verhindere wirtschaftliche Prosperität, stellt sich die Frage, warum es zum Beispiel Deutschland trotzdem so gut geht.
Den Briten scheint das Verhältnis der Schweiz zur EU zu gefallen. Wäre eine vergleichbare Anbindung mit bilateralen Verträgen nach einem allfälligen Austritt eine Option?
Nein. Das Schweizer ebenso wie das norwegische Modell wären ein klarer Rückschritt gegenüber der aktuellen Situation. Deshalb glaube ich auch, dass es am Ende eine knappe Mehrheit für einen Verbleib in der EU geben wird. Laut EU-Recht gibt es aber im Fall eines Austritts Verhandlungen für einen Vertrag, der die Beziehungen auf eine neue Basis stellt. Das käme dann zur Anwendung.
Denken Sie, dass es der Schweiz ausserhalb der EU besser geht? Im Moment scheint es jedenfalls so.
Ich kenne die Debatte natürlich. Persönlich glaube ich, dass die Schweiz in der EU besser aufgehoben wäre, aber mit ihrer eigenen Währung. In vielerlei Hinsicht ist die Schweiz ohnehin schon Teil der EU, denken Sie an Schengen oder die Personenfreizügigkeit. Es wäre einfacher, sie würde ganz dazugehören, sie könnte dann mitreden und ihren Einfluss viel besser geltend machen. Auf der anderen Seite hat die Schweiz natürlich tatsächlich ausserhalb einige Freiheiten, die sie auch clever nutzt. Ich denke da etwa an das Freihandelsabkommen mit China, das für die EU noch lange nicht in Sicht ist. Ich glaube auch nicht, dass die Schweiz in näherer Zukunft beitreten wird. Und die Euro-Krise hat die EU-Skeptiker natürlich bestärkt, nicht nur in der Schweiz.
Der Narzissmus der grossen Länder ist ein Teil des Problems.
Sie arbeiten am Centre for European Reform. Und Reformen scheinen bitter nötig in der EU. Welche wären die wichtigsten?
Die Liste ist lang: Es bräuchte politische Reformen, institutionelle Reformen, Reformen der EU-Verträge. Am wichtigsten scheint mir aber, das Legitimationsproblem zu lösen. Wir müssen Wege finden, demokratisch mit politischen Differenzen umzugehen, und den Menschen das Gefühl zurückgeben, dass sie mitbestimmen können, was in der EU geschieht. Die nächsten Wahlen des Europäischen Parlaments im Mai 2014 werden zeigen, wie unzufrieden die Bevölkerung wirklich ist. Die Wahlbeteiligung sinkt ja seit der Einführung 1979 konstant. Sollte sie weiter sinken und gleichzeitig die Zahl der gewählten EU-skeptischen Parlamentarier dramatisch zunehmen, erreichen wir einen Punkt, wo wir um Reformen nicht mehr herumkommen.
Wie könnten die aussehen?
Es wird zum Beispiel über einen Senat nachgedacht, also eine zusätzliche Parlamentskammer, in der alle Länder vertreten sind und in der über die wichtigen Themen debattiert und entschieden wird — all das, was im Moment die nationalen Regierungschefs tun. Derzeit treffen die aus der Not heraus Entscheide, deren Folgen uns noch Jahrzehnte beschäftigen werden. Und das ohne demokratische Mitbestimmung. Nun sind die EU-Themen vielen wohl auch schlicht zu kompliziert. Sie sagen zwar, dass sie mitreden wollen. Aber wenn es ernst wird, ist es ihnen zu anstrengend oder zu langweilig, sich mit den Detailfragen auseinanderzusetzen. Darin zeigt sich eine Art Krise der politischen Kultur in Europa.
Mehr demokratische Mitbestimmung würde es allerdings noch schwieriger machen, die dringend nötigen Reformen durchzusetzen. Sitzt die EU da nicht in der Zwickmühle?
Diese zwei Zielvorgaben — mehr Mitbestimmung und mehr Reformen — stehen tatsächlich in direktem Gegensatz zueinander. Da stehen der EU einige sehr schwere Entscheide bevor. Bis zu dieser Krise konnte sie die immer vor sich herschieben, denn es schien ja alles blendend zu laufen. Die Krise hat nun offengelegt, was alles nicht gut läuft. Deshalb, wie gesagt, ist sie auch eine Chance. Ich hoffe nur, sie wird auch genutzt, bevor die Lage sich wieder beruhigt und der Reformdruck sinkt. Ansonsten könnte Europa wie Japan in jahrelanger Stagnation versinken.
Könnten direktdemokratische Instrumente wie in der Schweiz eine Lösung sein?
Tatsächlich wäre die Schweiz mit ihren Kantonen und ihren unterschiedlichen Kulturen ein gutes Vorbild für die EU. Die direktdemokratischen Instrumente lassen sich vielleicht nicht eins zu eins übertragen, aber Reformen in diesem Sinn wären sicherlich angebracht. Das Frustrierende ist, dass gerade die grossen EU-Länder von sich selbst sehr überzeugt sind. Deutschland glaubt, wenn alle anderen so werden würden wie es, wäre das Problem gelöst. Dasselbe denken auch Frankreich und Grossbritannien von sich. Die Briten haben nun realisiert, dass das nicht passieren wird, also wollen sie raus aus der EU. Der Narzissmus der grossen Länder ist ein Teil des Problems.
Trotz allem sind Sie zuversichtlich, dass Europa eine Zukunft hat.
Ja, ich halte nicht viel von den Untergangspropheten. Schlimmstenfalls haben wir ein paar Jahre Stagnation, aber je länger die Krise dauert, desto radikalere Lösungsvorschläge werden kommen und sich irgendwann auch durchsetzen. Möglicherweise schauen wir in 20, 30 Jahren auf diese Krise zurück und stellen fest, dass die EU nur dank ihr in der Lage war, das zu tun, was nötig war, um wieder erfolgreich zu sein.