Die EU zwischen ökonomischer Integration und politischer Machbarkeit
Die Debatte um den Brexit ist geprägt von Argumenten aus der Wirtschaft. Wie erfolgreich war die EU bisher aus wirtschaftlicher Hinsicht? Welche Lehren lassen sich aus der Referendumsdebatte ziehen? Dr. Christian Odendahl über ökonomische Aspekte der Brexit-Debatte.
Herr Dr. Odendahl, in der Debatte über die britische EU-Mitgliedschaft ziehen beide Lager wirtschaftliche Argumente heran. Wie stichhaltig sind die Argumente beider Seiten?
Für die meisten Argumente der EU-Befürworter gibt es belastbare Schätzungen bzw. Erfahrungen, da man die momentane Situation in der EU gut kennt und analysieren kann. Ein Brexit ist dagegen ein Schritt ins Ungewisse, da keiner so genau weiß, was eigentlich danach passiert. Daher sind die Argumente der Austrittsbefürworter notgedrungen spekulativer.
In Bezug auf einen möglichen Brexit gehen die Prognosen über wirtschaftliche Folgen weit auseinander. Warum sind die Vorhersagen so unterschiedlich?
Die meisten Schätzungen von unabhängigen Beobachtern gehen in eine ähnliche Richtung. Allerdings versucht man etwas sehr Komplexes zu schätzen: Was sind die ökonomischen Konsequenzen, wenn man die Einbettung der britischen Wirtschaft in den europäischen Markt grundlegend ändert – eine Einbettung, die sich seit dem EU-Beitritt der Briten 1973 entwickelt hat? Das ist sehr schwer einzuschätzen.
Wäre der Brexit im Kern eine ökonomische oder eine politische Entscheidung?
Der Brexit wäre eine politische Entscheidung. Erstens waren es nicht ökonomische, sondern politische Gründe, die David Cameron dazu bewogen haben, das Referendum durchzuführen. Zweitens sind die wenigsten aus wirtschaftlichen Gründen für einen Austritt, sondern weil sie das Gefühl haben, wegen der EU keine Kontrolle mehr über ihr Land zu haben. Nicht umsonst sind die Begrenzung von Zuwanderung aus der EU und der Slogan "Take back control" die Hauptthemen der Austrittsbefürworter.
Vor über 40 Jahren trat Großbritannien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei. Nun steht die EU-Mitgliedschaft möglicherweise vor dem Aus. Ihr Resümee: Wie bewerten sie das Projekt EU-Mitgliedschaft aus wirtschaftlicher Hinsicht?
Das Ziel der EU, rein wirtschaftlich gesprochen, war es, die Grenzen in der EU einzuebnen, also eine Art ‚Globalisierung‘ in Europa zu schaffen. Gleichzeitig wurde diese Art der europäischen Globalisierung von Maßnahmen flankiert, die sie fair für alle machten: Strukturmittel für schwächere Regionen, freie Wahl des Arbeitsplatzes und Wettbewerb zum Beispiel bei den Steuersätzen, den schwächere Regionen mit niedrigen Sätzen für sich nutzen können. Das hat den Wohlstand in vielen Teilen der EU erhöht. Es ist kein Zufall, dass bei den Dienstleistungen, wo der EU-Markt noch sehr zerklüftet und national ist, Europa den USA weit hinterherhinkt – nicht aber bei den Gütern, wo der europäische Markt größtenteils ein vereinter ist. Wirtschaftlich war die EU bisher ein Erfolg.
Trotzdem stehen viele Briten der EU skeptisch gegenüber. Warum ist das so?
Es gibt zwei große Sorgen bezüglich der EU in Großbritannien. Erstens haben viele Briten das Gefühl, dass es zu viel Zuwanderung in ihr Land gegeben hat. Da die Briten Zuwanderung aus der EU legal nicht stoppen können, richtet sich der Einwanderungsfrust gegen die EU – auch wenn der größte Teil der Zuwanderung in Großbritannien der letzten 15 Jahre nicht aus der EU kam. Die zweite Sorge ist die um den Verlust der nationalen Souveränität. Die Briten sehen es mit Sorge, wenn Kompetenzen an die EU wandern, auch wenn das natürlich nötig ist, wenn man sich zum Beispiel wirtschaftlich stärker integrieren möchte. Mit 28 verschiedenen Regelwerken geht es nun mal nicht.
Großbritannien hält am 23. Juni bereits sein zweites Mitgliedschaftsreferendum. Das erste fand 1975 statt und fiel für einen Verbleib in der damaligen EWG aus. Auch damals wurden ökonomische Argumente ins Feld geführt. Haben sich die Argumente verändert?
Die Argumente sind ähnlich, aber die Situation eine andere: damals war der europäische Kontinent die ökonomische Wachstumsregion, und Großbritannien der „kranke Mann Europas“. Heute ist die Eurozone in Schwierigkeiten, wohingegen die britische Wirtschaft robust wächst. Das ökonomische Argument war damals sozusagen offensichtlich, das ist es heute nicht.
Was spricht aus ökonomischer Sicht für, was gegen ein Mehr an Integration in der EU?
Bei wirtschaftlicher Integration gibt es immer zwei sich entgegenstehende Pole. Zum einen ist ein Mehr an Integration ökonomisch sinnvoll. Es würde insbesondere Konsumenten helfen, hätten wir einen noch stärker integrierten europäischen Markt und mehr Konkurrenz. Das ist der rein wirtschaftliche Aspekt. Zum anderen aber erfordert ein Mehr an Integration, dass wir gemeinsam in Europa über Wirtschaftspolitik entscheiden. Dazu muss die Bevölkerung bereit sein und das ist sie nicht immer. Wir sind eben keine Vereinigten Staaten von Europa. Diese Abwägung zwischen sinnvoller ökonomischer Integration und politischer Machbarkeit muss immer wieder neu angestellt werden. Beim Euro war die Politik zu optimistisch: eine solche Extremform ökonomischer Integration erfordert sehr viel mehr politische Integration als die Bevölkerungen in Europa bereit sind zu akzeptieren. Im Falle der Eurokrise wurde das ganz deutlich: Der Euro wird zwar als Währung weithin akzeptiert, aber die damit einhergehende Vertiefung, inklusive Bankenunion, Bail-outs, etc. eher weniger.
Welche Lehren lassen sich für die EU und Deutschland aus der Referendumsdebatte ziehen?
Die wirtschaftliche Debatte in Großbritannien rund um den Brexit zeigt, dass man eine faktenorientierte Wirtschaftsdebatte rund um die EU führen und letztlich auch gewinnen kann. Wir sollten eine solche über den wirtschaftlichen Nutzen der EU nicht scheuen. Sie zeigt aber auch, dass der Verlust der nationalen Souveränität schwer wiegt und viele Menschen motivieren kann, für einen wirtschaftlich schädlichen Austritt zu stimmen. Wir müssen uns sehr genau überlegen, wo wir die nächsten Integrationsschritte wagen wollen – am besten dort, wo der wirtschaftliche Nutzen am größten und der wahrgenommene Verlust an nationaler Souveränität am geringsten ist. Gleichzeitig sollten wir die demokratischen Elemente der EU stärken, damit die Wähler nicht das Gefühl haben, sie gäben Kontrolle über ihr Leben an eine undemokratische Institution ab.
Christian Odendahl is chief economist at the Centre for European Reform.