Der Austritt hatte vorhersehbare okonomische Folgen
Die britische Wirtschaft geht auf Talfahrt, immer mehr Briten halten den Brexit für einen Fehler, und die Regierung erwägt offenbar eine Annäherung an die EU. Ein Gespräch mit dem Brexit-Experten John Springford vom Centre for European Reform.
Am Montag mussten sich die Brexit-Anhänger wieder mal richtig aufregen. „Völlig absurd“, sagte der EU-skeptische Abgeordnete Bill Cash, und der ehemalige Kabinettsminister Jacob Rees-Mogg sprach von einem „schweren Fehler“. Der Grund für die Empörung war ein Medienbericht vom Sonntag, laut dem die britische Regierung eine Annäherung an die EU nach Schweizer Vorbild plant. Damit hätte Großbritannien einen einfacheren Zugang zum europäischen Binnenmarkt – aber dafür müsste das Land auch die EU-Regeln übernehmen. Für mache Tories wäre das ein Skandal, die rechtskonservative „Daily Mail“ warnt vor einem „Brexit-Verrat“.
Die Regierung dementierte die Medienberichte am Montag denn auch vehement. Premierminister Rishi Sunak versicherte, dass Großbritannien unter seiner Führung „keine Beziehung mit Europa anstrebt, die eine Angleichung an die EU-Gesetze voraussetzt.“ Aber aus ökonomischer Perspektive wäre eine solche Neuausrichtung der Beziehung zur EU durchaus sinnvoll, sagt John Springford, Brexit-Experte und Vizedirektor des Thinktanks Centre for European Reform, im Gespräch. „Wenn Großbritannien beim Warenhandel Zugang zum Binnenmarkt hätte, würde das sicherlich britischen Landwirten und Herstellern enorm helfen.“
Mittlerweile ist dem Land klar geworden, wir sehr der Brexit der britischen Wirtschaft zusetzt. „Wir haben jetzt hohe Barrieren mit unserem größten Handelspartner, und das hat die vorhersagbaren Auswirkungen auf Handel und Investitionen gehabt“, sagt Springford.
„Nach meiner eigenen Schätzung, und jener des Rechnungshofs OBR und der London School of Economics, ist der Warenhandel um etwa 10 bis 15 Prozent eingebrochen. Die Investitionen stagnieren seit dem Brexit-Votum 2016.“ Unter Ökonomen herrsche ein klarer Konsens, sagt Springford: „Brexit hat in wirtschaftlicher Hinsicht genau die vorhersehbaren Folgen gehabt.“ Auch die Öffentlichkeit ist sich dieses Schadens zunehmend bewusst. „Wir haben jetzt eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung, die Brexit für einen Fehler hält“, sagt Springford. Umfragen zeigen, dass etwa 56 Prozent der Briten finden, das Land wäre besser Teil der EU geblieben; rund ein Fünftel der Leave-Wähler von 2016 bereuen ihr damaliges Votum.
Die Tatsache, dass die britische Wirtschaft so schlecht da steht – laut OECD wird Großbritannien im nächsten Jahr stärker einbrechen als die restlichen G7-Länder – bildet den Hintergrund zur Debatte um eine Annäherung an die EU. „Sunak und Finanzminister Jeremy Hunt versuchen, Stabilität und wirtschaftliche Kompetenz auszustrahlen. Sie wollen zeigen, dass sie vernünftige ökonomische Entscheidungen treffen können“, sagt Springford. „Und so beginnen die Journalisten zu fragen: Jetzt, wo wir wissen, wie viel uns der Brexit kostet, was tun wir dagegen?“
Eine britische Beteiligung am Binnenmarkt hätte auch den Vorteil, dass die Streitereien um das Nordirland-Protokoll beigelegt werden könnten. Die Brexit-bedingten Zollkontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien sorgen seit zwei Jahren für schwere Spannungen in der Provinz, und sie verhindern eine funktionierende Regierung in Belfast. „Derzeit ist Nordirland beim Warenverkehr im Prinzip Teil des EU-Binnenmarkts, nicht aber Großbritannien. Deshalb besteht die EU auf Zollkontrollen für Güter, die von Großbritannien nach Nordirland geschafft werden“, erläutert Springford. „Wenn jedoch das gesamte Vereinigte Königreich im Binnenmarkt wäre, dann wären jene Kontrollen nicht nötig.“
Dennoch hält es Springford für sehr unwahrscheinlich, dass die konservative Regierung versuchen wird, mit der EU einen Zugang zum Binnenmarkt auszuhandeln – zu stark ist der Widerstand in den eigenen Reihen. „Einerseits würde die EU wohl darauf bestehen, dass die Personenfreizügigkeit erneut eingeführt würde, und andererseits müsste Großbritannien die EU-Regulierungen übernehmen. Und das ist etwas, zu dem die Hardline-Brexiteers nicht bereit sind.“
Umgekehrt sei es unwahrscheinlich, dass die EU überhaupt einem „Schweizer Deal“ zustimmen würde. Die Schweiz hat über 100 bilaterale Verträge mit der EU, die sich über die Jahre angesammelt haben; die EU versucht seit Jahren, das Flickwerk durch einen einzigen Rahmenvertrag zu ersetzen. „Dass die EU einem Abkommen nach Schweizer Art zustimmen würde, ist also nicht zu erwarten“, sagt Springford. „Aber es gibt immer eine Grauzone zwischen einer partiellen Mitgliedschaft im Binnenmarkt und dem Zugang zum Binnenmarkt. Es lassen sich durchaus Lösungen finden, besonders im Zusammenhang mit Nordirland - etwa eine Angleichung an die EU-Regeln in gewissen Sektoren, damit die Zollkontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland nicht mehr nötig sein würden.“
Aber Sunaks kategorisches „Nein“ zu einer Angleichung an die EU-Regeln macht dies wenig wahrscheinlich. Im Fall einer Labour-Regierung wäre die Situation hingegen eine ganz andere. „Die Opposition ist derzeit in Umfragen weit vorne. Es ist gut möglich, dass sie die nächste Wahl 2024 gewinnen wird. Der Handelsvertrag mit der EU wird 2025 revidiert, und es ist anzunehmen, dass Labour dann versuchen könnte, das Abkommen etwas abzuschwächen.“