Neue Ideen für die EZB
Es will nicht recht zusammenpassen: Die Euro-Zone leidet unter Nullwachstum und Mini-Inflation, obwohl die Europäische Zentralbank (EZB) angeblich eine ultralockere Geldpolitik betreibt. Der verstorbene Ökonom Milton Friedman, linker oder gar keynesianischer Ideen unverdächtig, hätte den Finger zielsicher in die Wunde gelegt: «Niedrige Zinsen sind generell ein Zeichen, dass Geldpolitik zu restriktiv war; hohe Zinsen, dass sie zu locker war. Ich dachte, der Denkfehler, lockere Geldpolitik mit niedrigen Zinsen zu assoziieren, sei tot. Anscheinend sterben alte Irrtümer nie.» Es klingt ungewohnt, ist aber eindeutig: Die EZB-Politik ist nicht ultralocker; sie ist ultrarestriktiv.
Niedrige Zinsen signalisieren eine zu geringe Investitionsneigung. Der Grund sind meist schlechte Zukunftsaussichten. Um ihr preispolitisches Mandat zu erfüllen, muss eine Zentralbank die Erwartungen angemessen optimistisch halten. Durch das frühzeitige Senken von Zinsen kommt sie im Normalfall einer weiteren Verschlechterung der Stimmung zuvor und leitet die Wende ein. So halten sich Ersparnisse und Investitionsneigung die Waage, Zinsen bleiben mittelfristig auf angemessenem Niveau, und eine längere Abwärtsspirale wird vermieden. Das drückt sich dann in stabilen Inflationsraten und Inflationserwartungen aus.
Wenn, wie in Europa, Zinsen rekordtief liegen, während die Inflation sinkt und das Wachstum ausbleibt, war die Zentralbank zu langsam und zögerlich. Eine schwere Krise erfordert eine aggressive Geldpolitik, wie sie die Bank von England betrieben hat, um die Erwartungen herumzureissen und möglichst bald wieder zu einem normalen Zinsniveau zurückzukehren. Es ist kein Zufall, dass Grossbritannien real mit 3% wächst; es ist ebenfalls kein Zufall, dass dort Sparer 1,5 Prozentpunkte mehr erhalten als in Deutschland – nicht trotz, sondern wegen der expansiveren Geldpolitik.
Die EZB hat sich dieser Einsicht verweigert. Mitten in der schwersten Wirtschaftskrise seit 1929 erhöhte sie 2011 die Zinsen. Seitdem senkt sie die Zinsen immer dann, wenn durch neue, schockierend niedrige Inflationszahlen für jeden offensichtlich wird, dass etwas passieren muss. Nur ist es dann zu spät. Nachdem nun auch mittel- bis langfristige Inflationserwartungen an den Märkten auf inakzeptable Werte gefallen sind, scheint die EZB aufzuwachen. Doch was kann sie tun?
Mit dem mittlerweile klassischen nächsten Schritt, dem Ankauf von Staatsanleihen (Quantitative Easing, QE), tut sich die EZB politisch und rechtlich schwer. Dasselbe gilt aus praktischen Gründen für den Ankauf privater Papiere, da der Markt zu klein und fragmentiert ist. Das Ziel beider Massnahmen ist das gleiche: Da die kurzfristigen Zinsen schon bei null liegen, sollen auch die mittel- und langfristigen Zinsen gedrückt werden. Zudem werden die Banken umgangen und der Markt direkt mit Geld versorgt.
Allerdings sind diese Massnahmen aus zwei Gründen unzureichend. Erstens ist der Euro-Raum ein von Banken geprägter Raum: Sparer legen dort ihr Geld an, Firmen leihen meist von Banken und seltener auf dem Kapitalmarkt. Das bedeutet, niedrigere Kapitalmarktzinsen und höhere Aktien- und Immobilienpreise (beides eine Folge von QE) haben geringere Auswirkungen auf das Verhalten von Haushalten und kleineren Unternehmen als etwa in den USA.
Zweitens liegen die Erwartungen bezüglich zukünftiger Nachfrage und Inflation mittlerweile so tief im Keller, dass eine glaubhafte Wende der EZB vonnöten ist. Japan ist in den 2000er Jahren mehrmals daran gescheitert, mit QE allein eine Wende einzuleiten, die nicht nur Finanzmärkte jubilieren lässt, sondern auch die Realwirtschaft erfasst. Die Inflationserwartungen müssen wieder glaubhaft bei 2% verankert werden.
Zum Glück gibt es eine einfache und mit dem Mandat der EZB zu vereinbarende Art, dies zu tun: Die EZB sollte erklären, dass sie über die nächsten fünf Jahre im Durchschnitt 2% Inflation erreichen will. Bis anhin versucht die EZB jedes Jahr aufs Neue, die Marke von 2% zu schaffen. Neu wäre, dass die EZB mit «durchschnittlich 2% über fünf Jahre» verspräche, die Lücke an zu geringer Inflation, die sich gegenwärtig auftut, in Zukunft durch etwas höhere Inflation auszugleichen. Das bedeutet, dass bei einer Inflation unter 1% während eines Jahres die Inflation danach für ein Jahr auf rund 3% überschiessen muss, um im Schnitt auf 2% zu kommen.
Dieser im Fachjargon als «Price-Level Target» bekannte Ansatz hat den Vorteil, dass bei zu geringer Inflation (wie derzeit) die zukünftige Inflation automatisch etwas höher liegen müsste. Wenn dieses Versprechen von durchschnittlich 2% glaubwürdig ist (und das ist es, wenn es durch die Androhung massiver Anleihekäufe flankiert wird), würden die Inflationserwartungen entsprechend steigen, Realzinsen und Währung hingegen fallen. Dadurch würde die Wirtschaft auf einen Pfad der Erholung gesetzt, von der am Ende alle profitieren: Die Exporte ziehen an, Investitionen lohnen sich wieder, die Arbeitslosigkeit sinkt, und Anleger leiden nicht unter dauerhaft niedrigen Zinsen, sondern profitieren vom wirtschaftlichen Aufschwung.
Nun kann man einwenden, Geldpolitik allein könne die Probleme der Euro-Zone nicht lösen, es mangle vor allem an Strukturreformen und Wettbewerbsfähigkeit. Der alte Trick, angebotsseitige Reformen gegen angemessene Nachfragepolitik auszuspielen, funktioniert seit eh und je. Dabei ist unbestritten, dass beides nötig ist: Die Kombination aus geringem Wachstum, hoher Arbeitslosigkeit und geringer Inflation lässt sich mit mangelnden Strukturreformen allein nicht erklären.
Das von Kritikern angeführte Risiko einer Blasenbildung an Finanzmärkten ist zwar wichtig, allerdings ist Geldpolitik das falsche (weil zu grobe) Instrument zur Bekämpfung von Blasen. Tatsache bleibt: Die Geldpolitik in der Euro-Zone ist zu restriktiv. Es ist höchste Zeit, die alten Irrtümer über Geldpolitik zu begraben. Ein aggressiveres Vorgehen der EZB erscheint überfällig.
Christian Odendahl ist Chefökonom am Centre for European Reform (CER) in London.