Deutschland will klein sein, muss aber Großes wollen
Nach monatelangem Hin und Her gibt es nun auch in Berlin eine neue Bundesregierung. Mit ihr muss sich Deutschland von alten, liebgewordenen Illusionen verabschieden – unter anderem von seiner Selbsteinschätzung, es sei ein höchstens mittelgroßes europäisches Land.
Deutschland hat sich lange den Luxus erlaubt vorzugeben, etwas zu sein, was es nicht ist: ein kleines Land. Zum Zeitpunkt der Bundestagswahl hat es so gut wie keine öffentliche Debatte über die EU und die Rolle Deutschlands darin gegeben. Kanzlerin Angela Merkel verfügte damals über einen komfortablen Vorsprung in den Umfragen, der sie in ihrem Instinkt bestätigte, dass die deutschen Wähler nicht mit Diskussionen über Europas Zukunft behelligt werden wollen. Und auch der damalige SPD-Vorsitzende Martin Schulz konzentrierte sich fast ausschließlich auf innenpolitische Themen, obwohl er zuvor Präsident des Europäischen Parlaments gewesen war.
Doch die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, die Reformagenda des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und, in geringerem Maße, die Entscheidung des Vereinigten Königreichs, die EU zu verlassen, haben das Blickfeld der Deutschen verändert. Wenn Europa seine zahlreichen Herausforderungen bewältigen soll, muss Deutschland einige seiner lange bestehenden Annahmen hinterfragen. Es braucht eine klare europäische Agenda, die seinem politischen Gewicht gerecht wird.
Deutschlands historische Narrative und seine politischen Präferenzen beschränken zwar die Optionen, die einer Bundesregierung zur Verfügung stehen, es gibt aber dennoch realistische Schritte, die eine neue Regierung zum Wohl Europas und der Welt unternehmen kann. Wird die Koalition dieser Aufgabe gewachsen sein?
Antizyklische Finanzpolitik
Das Kapitel der Koalitionsvereinbarung, das Europa gewidmet ist, ist in Deutschland als Antwort auf Macrons Reformvorschläge für die Eurozone formuliert worden. Wer auf einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel gehofft hat, dürfte aber enttäuscht sein. Die neue Regierung mag vom Neustart des deutsch-französischen Motors für Reformen in der EU sprechen, es ist aber unwahrscheinlich, dass sie Vorschläge für die Vergemeinschaftung von Schulden oder die Schaffung eines gut ausgestatteten gemeinsamen Haushalts unterstützen wird.
Sie kann und sollte jedoch andere Maßnahmen verfolgen. Deutschland könnte sich mit dem Gedanken einer antizyklischen Finanzpolitik auf nationaler Ebene anfreunden – und sogar dafür werben. Außerdem sollte es aufhören, die Vollendung der Bankenunion der Eurozone hinauszuzögern und der Kapitalmarktunion hohe politische Priorität beimessen. Die neue Bundesregierung könnte einen mutigen Vorschlag zur Europäischen Einlagensicherung und zur gemeinsamen Letztsicherung (Fiscal Backstop) für den europäischen Bankenabwicklungsfonds machen, der greift, wenn Banken zusammenbrechen und abgewickelt werden. Sie könnte diesen Vorschlag an die Bedingung einer Bilanzbereinigung im europäischen Bankensystem knüpfen, vor allem in Italien, und an strenge Regeln für die Gläubigerbeteiligung (Bail-in).
Außerdem muss Deutschland seinen großen Sparüberschuss in Angriff nehmen, der Europas größter Volkswirtschaft nicht angemessen ist. Um den Konsum anzukurbeln, muss die zu hohe Steuerbelastung von Geringverdienern verringert werden. Die deutschen Arbeitsmarktinstitutionen bieten vielen Beschäftigten im Dienstleistungssektor weder ausreichend Verhandlungsmacht noch Schutz und haben so einen der größten Niedriglohnsektoren Europas entstehen lassen.
Leichte Konjunkturüberhitzung
Da das Finanzministerium in den Händen der SPD liegen wird, ist zudem möglich, dass mehr Gewicht auf öffentliche Investitionen als auf Steuersenkungen und eine weitere Verringerung der öffentlichen Verschuldung gelegt wird. Nach einem Jahrzehnt werden die Deutschen des ideologisch motivierten Strebens nach einer Reduzierung der Defizite allmählich müde. Die im deutschen Grundgesetz verankerte Schuldenbremse lässt höhere Staatsausgaben zu. Eine leichte Konjunkturüberhitzung infolge höherer privater und öffentlicher Investitionen würde dazu beitragen, die Löhne und die Importnachfrage zu erhöhen, was dazu beitragen könnte, Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss zu verringern.
Die neue Bundesregierung sollte außerdem eine neue Handelspolitik entwickeln, die das wirtschaftliche Gewicht Deutschlands und das der EU anerkennt und die bereit ist, es strategischer einzusetzen. Die zunehmend protektionistischen Töne der Regierung Trump sind eine ideale Gelegenheit für Deutschland, in die Bresche zu springen.
Die künftige Bundesregierung muss eine Handelspolitik entwickeln, die Wirtschaftsreformen und Sozialstandards unterstützt und zugleich Marktwirtschaften und Rechtsstaatlichkeit in ihrer Nachbarschaft fördert. Deutschland könnte auch mehr dafür tun, das übrige Europa dazu zu drängen, sich bei der Welthandelsorganisation energischer für soziale Rechte, Umweltschutz, Steuergerechtigkeit und bessere politische Standards einzusetzen.
Um diesen Vorschlägen Gehör zu verschaffen, müssen deutsche Politiker neue Akzente in der Debatte setzen. Als dominierendes Land der Eurozone muss Deutschland gewährleisten, dass alle ihre Mitglieder von der Währungsunion profitieren und dass sie eine stabilisierende Größe in der Weltwirtschaft ist. Deutschland muss endlich anfangen, sich als der bedeutende wirtschaftliche Akteur zu begreifen, der es ist, und sich entsprechend verhalten – bevor sich neue Minister an eingefahrene Routinen gewöhnen.
Sophia Besch is a research fellow at the Centre for European Reform.