Der "Gottvater" und der Brexit: Joschka Fischer geht auf die Knie
Ex-Außenminister Joschka Fischer zeigt sich ungewohnt demütig. Vielleicht weil es um eine Herzensangelegenheit geht, um Europa. Dem Staatenverbund droht der Brexit. Es steht viel auf dem Spiel.
Es ist, als sei er nie weggewesen: Joschka Fischer, der "Gottvater", wie er auch im Auswärtigen Amt augenzwinkernd genannt wurde. Er ist zu Gast beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin-Mitte, und hier kann er, der doch schon vor Jahren aus der Politik ausgeschieden ist, wieder ganz der Alte sein: Außenpolitiker und Weltenerklärer. Es geht um Europa und sein drohendes Scheitern, erst 2014 hat er dazu ein Buch veröffentlicht. Diesmal trägt das Scheitern einen spezifischen Namen: Brexit. Über den möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU stimmen die Briten am 23. Juni ab.
Mit knarzender Stimme übt sich Fischer vor den Gästen des DIW im diplomatischen Spagat. Dabei will er offenbar nicht den Fehler von US-Präsident Barack Obama wiederholen, der in der vergangenen Woche eindringlich vor den Folgen eines Brexits warnte - und damit die Briten verstimmte. Gut gemeinte Ratschläge sind selten willkommen, wenn sie mit unverhohlenen Drohungen einhergehen.
Fischer wählt einen anderen Weg. Auch wenn er mit seinen herunterhängenden Mundwinkeln stets leicht mürrisch wirkt, versucht er es an diesem Abend mit Charme und ungewohnter Demut: "Aus der Perspektive von Deutschland bitten wir euch, zu bleiben", sagt er, an die Adresse der Briten gerichtet, und faltet die Hände. "Wir gehen auf unsere Knie." In Deutschland wolle die große Mehrheit, dass Großbritannien in der EU bleibe, schließlich brauche die EU Großbritannien.
Einen Grund dafür sieht er in der wirtschaftlichen Krise, die die Europäische Union nach wie vor nicht gelöst habe. Mit aller ihrer "finanziellen Expertise" könnten die Briten Europa einen Input geben, den der Staatenverbund dringend brauche. Aber auch in der Außenpolitik hält Fischer die Briten für notwendig. Das Land, das 1940 allein gegen die Nationalsozialisten gekämpft und Europa verteidigt habe, könne "in diesem historischen Moment" Europa nicht hängen lassen. Schließlich würde sich bei einem Brexit, abgesehen von den Anhängern der "Leave"-Kampagne, vor allem einer freuen: der russische Präsident Wladimir Waldimirowitsch Putin.
Deutlich klarer als Fischer beschwört der ebenfalls anwesende britische Europaminister David Lidington die Gefahren eines Brexits. Im tief gespaltenen Kabinett David Camerons ist er einer der Minister, der vehement für einen Verbleib in der EU wirbt. Dabei hat er das gleiche Problem wie die Brexit-Gegner: Richtig schillernd sind seine Argumente nicht. Es geht vor allem um Zahlen, Zahlen, Zahlen. Eine emotionale Liebeserklärung an Brüssel erwartet man von ihm vergeblich.
Lidington: "Nicht alles perfekt"
"Man kann nicht sechs Jahre als Europaminister dienen und glauben, alles sei perfekt", erklärt Lidington, der immerhin passend in blauem Anzug und goldener Krawatte erschienen ist. Er weiß, dass er derzeit einen der undankbarsten Jobs in Großbritannien hat. Bei 28 Ländern müsse man Kompromisse schließen und könne nicht immer gewinnen, sagt er.
Lidington malt eindringlich das Bild eines ökonomischen Desasters an die Wand, das die Briten im Falle eines Brexits erwarte. Dabei stützt er sich auf Zahlen des britischen Finanzminister George Osborne von Mitte April, wonach jeder Brite im Fall des Falles 4300 Pfund weniger in der Tasche haben wird. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch internationale Organisationen wie der IWF, die OECD, verschiedene Wirtschaftsinstitute und Banken. Die Auswirkungen eines Brexits wären mit einer massiven Steuererhöhung vergleichbar, rechnete die OECD zuletzt vor.
Noch während Lidington auf der kargen Bühne des DIW erklärt, was auf Cameron und die Briten im Fall des Brexits zukommt, läuft über die Nachrichtenticker eine Nachricht aus Brüssel: "Keine Schonfrist für Großbritannien bei EU-Austritt". Demnach will die EU den Briten keine längere Übergangsphase als die laut EU-Vertrag üblichen zwei Jahre einräumen. Völlig neue Handelsvereinbarungen müssen dagegen über mehrere Jahre verhandelt werden. Klarer könnte Lidingtons kurz zuvor ausgesprochene Warnung, dass es "sehr schwierig werden wird", kaum bestätigt werden.
Ein möglicher Brexit - und nach der jüngsten Umfrage von YouGov liegen die Brexit-Befürworter derzeit mit einem Prozentpunkt vorn - hätte nicht nur massive Auswirkungen auf Großbritannien, da sind sich Lidington und Fischer einig: Auch innerhalb der EU würden sich im Falle des Falles die Gewichte massiv verschieben. Es sei deshalb auch im britischen Interesse, dass die Eurozone stabil bleibe.
Glaubt man Fischer, versteht Deutschland noch immer nicht die Wichtigkeit dieser Gefahren. Er reise viel zu Konferenzen und sehe die Herausforderungen, auf die Deutschlands politische und wirtschaftliche Führer nicht vorbereitet seien. Kurz darauf blitzt der alte Joschka Fischer wieder kurz auf, just in dem Moment, als er Bundeskanzlerin Angela Merkel auf seine ganz eigene Art verteidigt: Ihr könne man das ja nicht vorwerfen, sagt er. Sie sei im östlichen Teil Europas aufgewachsen.